10 Irrtümer der Pflege

Beim Stichwort Pflege kommen Ihnen bestimmt unterschiedliche Assoziationen in den Sinn. Vielleicht denken Sie als erstes an die Unterbringung in einem Pflegeheim, an die körperliche Belastung der Pfleger*innen oder an die hohe finanzielle Herausforderung. Aber im Grunde betrifft Sie das ja alles nicht – denn Sie werden ja bestimmt kein Pflegefall. Und wenn doch?

Wir decken 10 Irrtümer der Pflege auf: Warum Sie vielleicht doch ein Pflegefall werden, wie sicher die gesetzliche Pflegeversicherung ist, wer sich im Pflegefall wahrscheinlich um Sie kümmert und wie Sie Ihren Willen selbst bei Pflegebedürftigkeit noch durchsetzen können.

 

1. Ich werde kein Pflegefall.

Das wünsche wir Ihnen! Aber was, wenn doch? Pflegebedürftigkeit kann im Wesentlichen in zwei Kategorien aufgeteilt werden: entweder sie wird ausgelöst durch ein Ereignis, wie einen Unfall, Schlaganfall oder Behinderung, oder sie macht sich schleichend mit ansteigendem Alter bemerkbar.

Sie sind jung und fit und überzeugt, dass Sie kein Pflegefall werden? Wir stimmen Ihnen zu. Die allermeisten jungen Menschen sind nicht auf Pflege angewiesen – ein Unfall ist jedoch nicht vorhersehbar und kann leider jeden treffen.

Sie würden sich nicht mehr als jungen Hüpfer bezeichnen, zu den Oldies gehören Sie aber auch noch nicht? Dann rutschen Sie bereits in die Kategorie mit erhöhtem Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, zu der auch der Schlaganfall (Hirninfarkt) zählt. Bereits im Jahr 2015 hatten 2,5% aller erwachsenen Menschen einen Schlaganfall – das ist jede 40. Person in Deutschland. Hinzu kommt, dass 35,6% aller Schlaganfall-Patienten in den ersten drei Monaten auf pflegerische Versorgung angewiesen sind und 25% sogar in erheblichem Umfang weiterhin auf Pflege angewiesen bleiben. Zudem steigt das Risiko, ein Pflegefall zu werden, nach einem Schlaganfall um das 4,5-fache an.

Sie sind Ü60? Dann macht sich langsam, aber sicher doch das Alter bei Ihnen bemerkbar – und damit steigt das Risiko ganz erheblich, pflegebedürftig zu werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt laut der Sterbetafel 2018/2020 des Statistischen Bundesamts für Männer 78,6 Jahre und für Frauen 83,4 Jahre. Ein Blick auf die folgende Statistik zeigt, dass in der Altersgruppe 75-79 bereits ca. 12% der Männer pflegebedürftig sind – bei Frauen sogar schon 15%. In der Altersgruppe 80-84 sind ca. 21% der Männer und immerhin knapp 30% aller Frauen pflegebedürftig – das ist jeder 5. Mann oder jede 3. Frau.

Volkskrankheiten, zu denen auch der Schlaganfall zählt, steigen jährlich weiter an – könnten aber durchaus durch das richtige Essverhalten und einen ausgewogenen Lebensstil in Schach gehalten werden. Schaffen Sie es noch durch die 70er auf eigenen Füßen, so ist spätestens mit dem Beginn des 80. Lebensjahr das Risiko deutlich erhöht, ein Pflegefall zu werden. Daher ist es ein Irrtum anzunehmen, dass Sie niemals in Ihrem Leben ein Pflegefall werden – die Zahlen sprechen für sich, Tendenz steigend.

 

2. Wenn ich doch ein Pflegefall werde, dann nur für kurze Zeit.

Diese Aussage ist leider ein Irrtum. Laut dem Pflegereport der Barmer Ersatzkasse betrug die durchschnittliche Dauer der Pflege über alle Altersklassen hinweg im Jahr 2015 bereits für Männer ca. 7 Jahre und für Frauen 6,4 Jahre.
Tritt die Pflegebedürftigkeit nach dem 60. Lebensjahr ein, so beträgt die Dauer bei Frauen ca. 4,9 Jahre und bei Männern 3,6 Jahre – die kürzeren Zeiten hier könnten mit einem verfrühten Ende des Lebens zusammenhängen. Denn sobald die Pflegebedürftigkeit in hohem Alter eintritt, geht es leider oft rasant abwärts. Egal, ob vor oder nach dem 60. Lebensjahr, von einer „kurzen Zeit“ der Pflegebedürftigkeit kann nicht die Rede sein.

 

3. Ich werde von meiner Familie gepflegt.

Laut dem Statistischen Bundesamt, werden 56% aller Pflegebedürftigen zu Hause von ihren Angehörigen versorgt. Dabei werden Pflegebedürftige öfters von Frauen als Männern versorgt, wie eine Erhebung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin 2018 ergeben hat.

Frauen sind zunehmend mehr berufstätig. Besonders ab dem 40. Lebensjahr, wenn die Kinder mehr und mehr auf den eigenen Beinen stehen, nutzen sie die Zeit, um wieder voll in den Beruf einzusteigen oder sich beruflich weiterzuentwickeln. Tritt dann ein Pflegefall in der Familie ein und die Frau soll die Pflege zu Hause übernehmen, ist das ein erheblicher Einschnitt in ihren Lebensstil. Hinzu kommen oft festgefahrene Gesellschaftsstrukturen, die es der gesamten Familie nicht oder nur schwer erlauben, einen pflegebedürftigen Angehörigen in ein Pflegeheim abzugeben. Zur psychischen Belastung der Pflege kommt noch die körperliche Anstrengung hinzu. Beides wird oftmals unterschätzt und stellt für ältere Frauen eine echte Hürde dar.

Aber was ist denn mit den Kindern? Hier macht sich der Wandel der Zeit bemerkbar: Immer üblicher wird es, dass Kinder nicht in derselben Stadt oder demselben Dorf wohnen, sondern ihre Wurzeln anderswo schlagen. Im Regelfall sind die Kinder zudem voll berufstätig - dann den (Vollzeit)job der Pflege eines Angehörigen zu übernehmen, spiegelt sich durch den (Teil)verlust des Einkommens auch deutlich in der Haushaltskasse wider.

Ja, kommt es zur Pflegebedürftigkeit, dann werden viele zu Hause von der Familie, besonders von Frauen, gepflegt. Fakt ist aber auch, dass diese zusätzliche Belastung oft nur notwendig ist, weil keine finanzielle Vorsorge für den Pflegefall getroffen wurde. Hauptfaktor, dass die Pflege weitgehend von der Familie zu Hause übernommen wird, sind nämlich unerwartet hohe Pflegekosten für ambulante Pflegedienste oder die Unterbringung im Pflegeheim.

 

4. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist sicher.

Nach hartem Ringen wurde 1994 die soziale Pflegeversicherung in Deutschland eingeführt, hart umkämpft von Norbert Blühm, dem damaligen CDU-Minister für Arbeit und Sozialordnung. Bereits im Jahr 1999 überschritten die Ausgaben der Pflegeversicherung zum ersten Mal die Einnahmen. Aus der unten aufgeführten Tabelle ist zudem ersichtlich, dass die Pflegeversicherung von jeher knapp bemessen war und es immer noch ist.

Die soziale Pflegeversicherung (kurz SPV) funktioniert durch ein Umlagesystem, wobei die jüngere Generation jeweils für die Älteren einzahlt. Dies brachte den Vorteil mit sich, dass bereits mit dem Beginn der Pflegeversicherung ältere Generationen versorgt werden konnten. Heute jedoch führt dieses System zu einem Problem, denn im Zuge des demographischen Wandels in Deutschland gibt es weniger nachrückende Beitragszahler in der jüngeren Generation als Leistungsempfänger der älteren Generation. Eine leichte Denkaufgabe ist die Konsequenz: Mehr Ausgaben, aber weniger Einzahler? Das kann auf Dauer nicht funktionieren!

 

 

5. Die gesetzliche Pflegeversicherung reicht aus.

Leider ein weiterer Irrtum, denn die Pflegeversicherung wurde von Anfang an als eine „Teilkaskoversicherung“ konzipiert. Daher wird eben nur ein Teil der Pflegekosten für ambulante und stationäre Pflege übernommen, die Differenz muss aus eigener Tasche beglichen werden. Zu den Kosten der Pflege, wie z.B. für ambulante Pflegedienste oder besondere Ausstattung, kommen noch Wohn- und Verpflegungskosten dazu. Das gestaltet sich als schwierig, denn der oder die Pflegebedürftige kann entweder nur noch vermindert oder überhaupt nicht mehr arbeiten gehen. Besonders, wenn bspw. der Partner oder die Partnerin die Pflege zu Hause übernehmen, kommt es zu weiteren Einbrüchen in der Haushaltskasse.

Wenn die laufenden Einnahmen und das Ersparte nicht ausreichen, um alle Kosten zu decken, greift der Sozialstaat ein. So kann bei Bedarf im Sozialamt „Hilfe zur Pflege“ beantragt werden. Im Zuge des Sozialhilferegresses kann sich die zuständige Sozialbehörde übernommene Kosten von den Angehörigen des Leistungsempfängers wieder

zurückholen. Durch die im Jahr 2020 deutlich angehobene Einkommensgrenze müssen Kinder allerdings nur noch in seltenen Fällen finanziell bei der Pflege unterstützen. Mehr zum Sozialhilferegress können Sie in unserem passenden Artikel nachlesen.

Eine Alternative ist der Abschluss einer privaten Pflegeversicherung, welche die Lücke zwischen Pflegekosten und Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung schließt. Je nach Pflegegrad wird eine vertraglich festgelegte Summe ausgezahlt.

Das folgende Beispiel veranschaulicht, dass die gesetzliche Pflegeversicherung nicht ausreicht:

Durchschnittliche monatliche Kosten für Pflegeheim

Monatliche Leistung der gesetzlichen Pflegeversicherung bei Pflegegrad 5

Monatliche Differenz

3.500 EUR

- 2.005EUR

= 1.495EUR

Somit ergibt sich eine Lücke von 17.940EUR jährlich. Mit der zuvor erwähnten durchschnittlichen Pflegedauer von 7 Jahren für pflegebedürftige Männer, ergibt sich ein Defizit von 125.580EUR. Könnten Sie sich diese Differenz leisten?

 

6. Wenn ich nicht mehr selbst handeln kann, dann entscheiden mein*e Partner*in und/oder meine Kinder für mich.

Das wäre wünschenswert, ist jedoch ohne entsprechende Vorkehrung rechtlich nicht zulässig. Es ist nicht gesetzlich geregelt, dass der Ehegatte oder nahe Angehörige füreinander handeln dürfen; eine automatische Vertretungsmacht gibt es nicht. Durch eine Vorsorgevollmacht können Sie eine oder mehrere Personen Ihres Vertrauens als Ihren Handlungsbefugten einsetzen, sollten Sie selbst nicht mehr in der Lage sein, für sich zu handeln oder zu entscheiden.

Zur Vorsorgevollmacht können Sie sich ausführlicher in diesem Artikel informieren.

 

7. Das Gericht bestellt nahe Angehörige zum Betreuer.

Eine Betreuung ist dann notwendig, wenn Sie selbst nicht mehr in der Lage sind, für sich zu sorgen. Dabei können verschiedene Gründe vorliegen, wie z.B. Demenz, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit. Kommt es zu einem Antrag auf Betreuung, haben Sie kein direktes Mitspracherecht. Zwar kann das zuständige Amtsgericht Ihre Wünsche berücksichtigen, ist hierzu jedoch nicht verpflichtet. Kommt es bspw. zu Uneinigkeit oder gar Streit zwischen den Kindern, wer ein Elternteil betreuen soll, kann das Gericht einen Berufsbetreuer bestellen. Dies ist in der Regel eine fremde Person, die dann unter Ausschluss der Familienmitglieder die anstehenden Entscheidungen trifft. Da zwischen Ehepartnern ein Interessenskonflikt entstehen kann, werden Ehepartner oft nicht füreinander als Betreuer eingesetzt.

Nur durch eine Vorsorgevollmacht können Sie die Bestellung eines Betreuers vermeiden. In der Vollmacht legen Sie fest, auf welche Person Sie die Entscheidungsbefugnis übertragen. Über die Vorsorgevollmacht können Sie sich ausführlicher hier informieren.

 

8. Meine Angehörigen entscheiden über den Abbruch ärztlicher Behandlungen.

Hier verhält es sich ähnlich wie mit der Vorsorgevollmacht. Da gesetzlich keine Vertretungsmacht geregelt ist, dürfen Ihre Angehörigen nicht über einen ärztlichen Behandlungsabbruch entscheiden. Sie können Ihren Willen in einer Patientenverfügung festlegen, der für Ihren Bevollmächtigten und Ihren behandelnden Arzt verbindlich ist.

Wurde bereits ein Betreuer gerichtlich bestellt, so übernimmt dieser die Durchsetzung Ihrer Patientenverfügung. Wer dies ablehnt, tut gut daran, eine Patientenverfügung zu erstellen. Mehr dazu finden Sie in unserem passenden Artikel.

 

9. Ich habe ein Testament und brauche deshalb keine Vorsorgevollmacht.

Es ist gut und richtig, mit einem Testament ihren letzten Willen festzuhalten. Ihr letzter Wille greift allerdings erst, wenn Sie bereits verstorben sind. Das Testament ist daher erst im Erbfall wichtig und erlaubt Ihnen so, Ihren Nachlass nach Ihren Wünschen auf Ihre Angehörigen und Liebsten aufzuteilen.

Die Vorsorgevollmacht allerdings greift bereits zu Lebzeiten, wenn Sie bspw. durch Alter oder Krankheit Ihren Willen nicht mehr äußern können und legt fest, wie beispielsweise Ihr Vermögen noch zu Lebzeiten verwaltet werden soll.

 

10. Kein Irrtum ist ...

… dass die Sozialbehörde, wenn die Eltern staatliche Leistungen erhalten, insbesondere Unterhaltsansprüche gegen die Kinder und bei Schenkungen auch Rückforderungsansprüche gegen den Beschenkten auf sich überleiten und geltend machen kann.

Gesetzlich geregelt ist nämlich, dass ein Unterhaltsanspruch den Kindern gegenüber besteht, wenn ein Elternteil pflegebedürftig wird und die Kosten selbst nicht tragen kann. Die erhöhte Einkommensgrenze verhindert jedoch in den meisten Fällen die Unterhaltszahlung durch die Kinder. Wurde aber in den letzten 10 Jahren vor der Pflegebedürftigkeit Vermögen verschenkt, so kann das Sozialamt die Schenkung im Namen des Leistungsempfängers zurückfordern und gewährte Leistungen damit decken.

 

Sorgen Sie vor!

Wie Sie es auch drehen und wenden: das Risiko, pflegebedürftig zu werden, sollten Sie nicht aus den Augen verlieren. Mit oft einfachen und vor Allem frühzeitigen Maßnahmen kann schwierigen und komplizierten Situationen später vorgebeugt werden. Nehmen Sie gerne Kontakt zu uns auf und vereinbaren einen ersten Beratungstermin mit Fachanwältin Elke Kestler, damit Sie heute schon auf morgen vorbereitet sind.

 


Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Text das generische Maskulinum verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat lediglich redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. An dieser Stelle sei auch gesagt, dass das Easy Erbrecht Infoportal und dessen Inhalte ausschließlich von Frauen produziert wird.